30.01.2005, Christoph Münz
Wie kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben? 


Was für eine Frage: "Wie kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben?" Was für eine Frage, die Sie mir, einem Nicht-Theologen, einem Historiker dazu, stellen. Eine Frage, bei der es einem die Sprache verschlagen möchte, eine Frage, die jede denkbare Antwort frag-würdig erscheinen lässt, eine Frage, bei der jede denkbare Antwort zahllose neue Fragen aufwirft, ähnlich der vielköpfigen Hydra in der griechischen Sage, jener ungeheuren Wasserschlange, deren neun Köpfe - kaum dass man ihr einen davon abschlug - gleich doppelt nachwuchsen.
 
Und je genauer man sich diese Frage ansieht, sie Stück um Stück zu analysieren versucht, um so mehr scheint sie eine neuzeitliche Verkörperung eben jener Hydra zu sein, reckt sich doch mit jedem Begriff, aus dem diese Frage sich zusammensetzt, ein Bündel vielköpfiger neuer Fragen hervor.
 
Wer ist "man"? Wie kann MAN nach Auschwitz noch an Gott glauben? Wer ist "man"? Ein Christ? Ein Jude? Ein Moslem gar? Hinduist oder Buddhist? Zweifelsohne stellt sich diese Frage einem Christen, der Teil einer Tradition ist, die den Weg nach Auschwitz durch jahrtausendelangen Antijudaismus mit geebnet hat, anders dar, als sie sich einem Juden stellt, der jahrtausendelang zumeist im Schatten der Geschichte verbrachte und der seine Heimat weit öfter auf den Friedhöfen Europas als in den biblischen Verheißungen für das auserwählte Volk fand.
 
Und was ist "Auschwitz"? Wissen wir wirklich, was mit diesem Namen gemeint ist, der jenen realen Ort nennt, der zum größten aller jüdischen Friedhöfe dieser Welt wurde, und ebenso als Synonym, als Metapher benutzt wird, um jene seinerzeit an vielen Orten vollzogene Orgie aus Gas und Blut zu bezeichnen, vor der wiederum nahezu alle, die diese Orgie erlebt und überlebt haben letztlich ebenso sprach- und verständnislos stehen wie die Nachgeborenen, die sich diesem menschlichen Desaster nur mit Hilfe von Zeugenberichten und Quellen nähern können. Was ist "Auschwitz"?
 
Und "Gott"? Wie kann man nach Auschwitz noch an GOTT glauben? An welchen Gott? Den jüdischen Gott des "Shma Jisrael", Höre Israel, Gott ist einzig, oder den dreieinigen Gott des christlichen Glaubensbekenntnisses, oder den islamischen des "Alah u akbar? An welchen Gott also? Den barmherzigen, den allwissenden, allmächtigen, den "lieben" Gott? An einen Gott, der in die Geschichte eingreift, oder an ein "Gott" genanntes Schöpfungsprinzip, das dem Wohl und Wehe der Menschen fern und gleichgültig gegenübersteht?
 
Und nun bringt man alle diese drei vielköpfigen Begriffe in eine Frage ein! Wie kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben? Mir fällt eine Passage ein, die einst Eli Wiesel, Auschwitz-Überlebender und späterer Friedensnobelpreisträger, in seinem Buch "Nacht" schrieb::
 
»Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen. Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben«. (Elie Wiesel, "Nacht", 1960)
 
Herkules entledigte sich einst der vielköpfigen Hydra, indem er die Halsstümpfe der abgeschlagenen Köpfe ausbrannte und so ihre doppeltes Nachwachsen verhinderte. Es bedürfte mehr als eines neuen Herkules, um die vielköpfige Hydra in Gestalt der Frage nach dem Glauben an Gott nach Auschwitz zu beantworten. Stattdessen möchte ich diese Frage umkreisen, mich in Umwegen ihr nähern, sie beobachten, vorsichtig berühren, ihren Geruch aufnehmen, ihre Eigenarten kennenlernen, ihr Wesen ausloten. Mein Herkules auf dieser Reise heißt Erinnerung. Und es soll nicht irgendeine Art der Erinnerung sein. Da wir heute aus Anlass des Gedenktags zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus hier sind, scheint es mir angemessen, dies auch mit Hilfe der Erinnerung der Opfer zu tun, genauer: der Art und Weise von Erinnerung, wie sie in weiten Teilen innerhalb der wohl größten Opfergruppe des Nationalsozialismus gepflegt wird, nämlich jener der Juden und des Judentums. Beginnen möchte ich aber mit einer persönlichen Note.
 
Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an meine eigene Jugend im Alter zwischen 12,13 und 16 Jahren. Alles mögliche bewegte mich damals, inmitten der Pubertät, alles mögliche ging mir in Kopf und Herz herum, aber gewiß nicht die Vergangenheit. Im Gegenteil, wenn man jung ist, liegt die Zukunft vor einem wie ein offenes Buch voller Möglichkeiten. Für Geschichte fand ich nur wenig Interesse, das auch durch den Schulunterricht kaum gesteigert wurde. Vom Krieg, von den Nazis und von Juden wußte ich kaum etwas. Einzig ein Bild, das sich mir tief eingegraben hatte, trug ich mit mir herum, ohne daß dies jedoch irgendeine greifbare Wirkung gehabt hätte oder ich mir der Bedeutung dieses Bildes wirklich bewusst gewesen wäre.
 
Ich mochte wohl 10 oder 11 Jahre alt gewesen sein, als ich mit meinem Großvater zusammen einen Ausschnitt im Fernsehen sah, bei dem es wohl um die Vernichtung der Juden ging. Nichts davon blieb mir in Erinnerung, ich hatte kaum etwas verstanden, keine Zusammenhänge, kein Wissen blieb übrig, aber ein Bild: es war das Bild eines meterhohen Haufens voller Schuhe in einem der Vernichtungslager. Kleine Schuhe von Kindern, auch Babyschuhe, und große von Erwachsenen. Dieses Bild hunderter von Schuhen ohne Besitzer hatte sich wie ein Fremdkörper in meiner Seele eingenistet. Und wie tief, das wurde mir erst viele Jahre später deutlich.
 
Denn eines Tages geschah etwas merkwürdiges. Seit dem 10. Schuljahr gehörte ich einer Theater-AG meiner Schule an. Im 12. Schuljahr war es nun, daß wir von Max Frisch das Stück "Andorra" aufführen wollten. "Andorra" – ein "Lehrstück", wie Frisch es selbst in Brecht'scher Tradition nannte, ein Lehrstück darüber, wie Vorurteile entstehen und welch tödliche Wirkung sie haben. Im Mittelpunkt steht der junge Andri, von dem das Gerücht umgeht, er sei ein Jude. In der Folge wird er in dem kleinen Städtchen in dem er lebt, systematisch ausgegrenzt, zum Außenseiter, zum Juden gemacht, der schließlich dem Mob, dem blinden Volkszorn zum Opfer fällt. Andri hat eine Halbschwester, Barblin, die einzige, die ihn nicht verrät und nicht im Stich läßt. Auch für diese beiden ist die Zukunft ein offenes Buch voller Möglichkeiten, das allerdings für beide brutal zugeschlagen wird. Nach dem Tod Andris verfällt Barblin dem Wahnsinn. Das Stück endet mit einer Szene, die in ihrer beklemmenden Kraft mehr über dieses Jahrhundert aussagt, als tausend Geschichtsbücher. Barblin, einen Malerpinsel in der Hand und mit kahlgeschorenem Kopf verstreicht auf dem Pflaster weiße Farbe, als der örtliche Pfarrer, der Pater, auf sie zugeht. Ich zitiere die letzten Worte dieses Stückes:
BARBLIN: Ich weißle.
PATER: Ich bin der Pater Benedikt
Barblin weißelt das Pflaster
PATER: Ich bin der Pater Benedikt
BARBLIN: Wo, Pater Benedikt, bist du gewesen, als sie unsern Bruder geholt haben wie Schlachtvieh, wie Schlachtvieh, wo? Schwarz bist du geworden, Pater Benedikt...
Pater schweigt
BARBLIN: Und mein Haar?
PATER: Dein Haar, Barblin, wird wieder wachsen -
BARBLIN: Wie das Gras aus den Gräbern.
Der Pater will Barblin wegführen, aber sie bleibt plötzlich stehen und kehrt zu den Schuhen zurück.
PATER: Barblin - Barblin...
BARBLIN: Hier sind seine Schuh. Rührt sie nicht an! Wenn er wiederkommt, das hier sind seine Schuh.
(Max Frisch, "Andorra", Zürich 1961)
Dann verlassen die beiden die Bühne und zurückbleiben einzig jenes paar herrenloser Schuhe, die einstmals Andri gehörten.
 
Da waren sie also wieder, die Schuhe. Und schlagartig tauchte in mir jenes Bild hunderter von Schuhen der Ermordeten wieder auf, das ich als kleiner Junge vor vielen Jahren im Fernsehen erstmals gesehen hatte. Das war - wenn man so will - meine erste bewußte Begegnung mit "Erinnerung" in diesem Zusammenhang. Und ich glaube, seit diesem Zeitpunkt, wollte ich wissen, was ist geschehen mit denen, deren Füße einmal zu diesen Schuhen gehört hatten, und: was ist der Mensch, wenn alles, was von ihm übrig bleibt, ein armseliges Paar Schuhe ist.
 
Während des Prozesses gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem, dem Hauptorganisator der sogen. Endlösung der Judenfrage, berichtete der Auschwitz-Überlebende Zalman Kleinmann von einem Vorfall, dessen Zeuge er in Auschwitz war:
 
"Eines Tages lag ich auf meiner Bank im Kinderblock von Auschwitz und sah einen der Lageroffiziellen mit einem Gummiknüppel herbei kommen. Ich sprang von meiner Bank auf, um zu sehen, wen er wohl schlagen wolle. Schläge gab es für jede "Sünde", und die Anzahl der Schläge hing von der Schwere des Verbrechens ab. Es war das erste Mal, daß ein Gummiknüppel benutzt wurde. In der Regel benutzten sie einen Stock, der aber oft mitten während des Schlagens zerbrach. ... Der Lageroffizielle ging zu einer der Bänke. Der Junge, der dort  lag, wußte, was ihn erwartete... Er beugte sich und das Schlagen begann. Wir anderen warteten und zählten die Schläge. Weder schrie der Junge noch weinte er, er seufzte nicht einmal. Wir wunderten uns und verstanden nicht, was das zu bedeuten hatte. Die Zahl der Schläge ging an 25 vorüber, was für gewöhnlich die höchste Zahl an Schlägen war. Als die Schlagzahl vierzig erreicht war, begann er den Jungen auf Kopf und Füße zu schlagen. Der Junge schluchzte nicht, noch schrie er - ein vierzehnjähriger Junge - noch weinte er. Der Lageroffizielle hörte bei fünfzig Schlägen auf und ging voller Grimm. Ich erinnere mich an die fürchterliche, blutüberströmte Stirn des Jungen, die der Gummiknüppel hinterlassen hatte. Wir fragten ihn, was er getan habe, daß er sich diese Schläge zuzog. Er antwortete, "Es war es wert. Ich brachte einigen meiner Freunde ein paar siddurim (jüdische Gebetbücher), damit sie beten konnten. Das war es wert." Kein einziges Wort mehr sagte er. Er stand auf, ging zurück zu seiner Bank und setzte sich hin."
 
Es war es wert. Eine absonderliche Welt. Wer könnte sich das heute vorstellen, 50 Schläge bis aufs Blut, nur wegen ein paar Gebetbüchern? Es war es wert. Ein 14jähriger Junge sagt das. Er hält den Kopf hin, nicht um seines eigenen oder das Leben anderer willen, nicht um Reichtümer, Macht oder Ansehen willen, nein, allein wegen ein paar Gebetbüchern. Kann man das verstehen? Eine Welt, in der man wegen ein paar Gebetbüchern fast zu Tode geprügelt wird, eine Welt in der man sich wegen ein paar Gebetbüchern fast zu Tode prügeln lassen muß?
 
Noch eine Geschichte, eine Geschichte, die ebenfalls von einem Jungen berichtet, dann aber den Vater dieses Jungen in den Mittelpunkt rückt, dessen Verhalten uns in das Zentrum der jüdischen Problematik hineinführt.
 
Rabbi Zwi Hirsch Meisels, einer der wenigen hoch angesehenen orthodoxen Rabbiner, die den Holocaust überlebten, berichtet von fol­gender Begebenheit, die sich in Auschwitz zutrug. Am Vorabend von Rosch HaShanah, dem jüdischen Neujahrsfest, im Jahre 1944 entschied der Kommandant von Auschwitz, nur jene Kinder männlichen Geschlechts im Alter zwischen 14 und 18 Jahren am Leben zu lassen, die groß und kräftig genug waren zum Arbeiten. Etwa 1600 betroffene Jungen, alles Überlebende vorheriger Selektionen, mußten sich auf einem zentralen Platz des Lagers versammeln. Es wurden zwei hölzerne Pfosten in der Erde verankert und eine Latte in einer bestimmten Höhe horizontal an ihnen angebracht. Die Jungen mußten nun alle einzeln unter dieser Latte hindurch gehen. Diejenigen, deren Kopf an die Latte reichte, oder gar überragte, wurden zurück in ihre Baracken geschickt. Alle anderen, die unter der Latte hindurch kamen, wurden in einer speziellen Baracke festgehalten. Ihre Zahl war um die 1400. Sie erhielten weder Essen noch Trinken, und es war klar, daß sie am Abend des nächsten Tages vergast werden sollten.
 
- Gemessen und für zu klein befunden -.
 
Am darauf folgenden Morgen, dem ersten Tag von Rosch HaShana, versuchten zahlreiche Eltern das Wachpersonal zu bestechen, doch ihre Kinder freizulassen. Die Wachleute wiesen das zurück, es sei eine genaue Zahl der Selektierten festgehalten und für jeden, der am Abend fehlen sollte, würde einer der Jungen hinzu genommen werden, die die Selektion überstanden hatten.
 
Daraufhin kam ein Jude, dessen einziger Sohn unter den für die Gaskammer bestimmten Jungen war, zu dem ebenfalls im Lager inhaftierten Rabbi Zwi Hirsch Meisels. Der Vater hätte durch Bestechung der Wachleute seinen Sohn retten können, wußte jedoch, daß dafür einer der verschonten Jungen anstelle seines Sohnes würde in den Tod gehen müssen. Ist es erlaubt, den eigenen Sohn zu retten auf Kosten des Lebens eines anderen Jungen? Mit dieser unerhörten Frage konfrontiert, sah sich Rabbi Meisels auch nach längerem Nachdenken außerstande, dem Vater einen verbindlichen Rat zu geben. Daraufhin sagte der Vater: "Rabbi, ich habe getan, wozu die Torah mich verpflichtet. Ich habe um halachische [religiös-gesetzmäßige] Unterweisung durch einen Rabbi ersucht. Wenn du mir nicht sagen kannst, daß ich meinen Sohn auslösen darf, dann bist du dir offensichtlich selbst nicht sicher, ob das [Religions-] Gesetz es erlaubt.... So sind mir deine Zweifel gleichbedeutend mit einem Verbot, so zu handeln. Mein einziger Sohn wird sein Leben verlieren in Übereinstimmung mit der Torah und der Halacha.... Ich werde nichts tun, um ihn auszulösen um den Preis eines anderen unschuldigen Lebens, denn so lautet das Gebot der Torah". Rabbi Meisels berichtet weiter, daß der Vater den ganzen Tag von Rosch HaSchana über leise im Gebet vor sich hin sprach, er habe seinen einzigen Sohn geopfert al Kiddusch haSchem, zur Verherrlichung des Namen Gottes.
 
Diese gut bezeugte und viel zitiert Episode aus dem `Königreich der Nacht' (Elie Wiesel) demonstriert in erschütternder Weise nicht nur die Perfidie des Nazi-Ungeistes, sondern vor allem auch die auf jüdischer Seite tief verwurzelte Dominanz religiös geprägter Denk- und Verhaltensweisen. Dies galt zumindest für die Juden Osteuropas, die - im Gegensatz zu den in Westeuropa lebenden Juden - in ihrer überwiegenden Mehrheit dem traditionell-orthodoxen und damit zutiefst religiösen Judentum des Schtetls angehörten und zahlenmäßig wohl den größten Blutzoll während des Holocaust entrichten mußten. Allein vor diesem Hintergrund eines tief religiösen, osteuropäischen Judentums ist es erklärbar, wenn ein 14jähriger nach einer gewaltigen Prügelorgie wegen ein paar Gebetbüchern sagen kann "Es war es wert", und daß ein Vater in den Tod seines einzigen Sohnes einwilligt, weil er es aus religiöser Überzeugung nicht verantworten kann, das Leben seines Sohnes auf kosten eines anderen Lebens zu retten.
 
In den letzten Jahrtausenden waren es vor allem zwei religiöse Konzeptionen, mit deren Hilfe Juden versuchten, ihre nicht wenigen Erfahrungen von Leiden in und an der Geschichte deutend zu verarbeiten: Kiddusch haSchem - die Heiligung des Namen Gottes, die jüdische Form des Martyriums, und Mipnej Chata´enu - unserer Sünden wegen [geschah dies], eine biblisch abgeleitete Vorstellung von einem unmittelbaren Tat-Ergehen-Zusammenhang. Beide diese Konzeptionen finden ihre Anwendung nun bis in die irreale Realität der Ghettos und Vernichtungslager der Jahre 1938-45 hinein, wie eine abertausende Dokumente umfassende, vielfach atembetäubende Literatur, die sogenannten Responsen, belegt.
 
Machen wir einen zeitlichen Sprung in die Zeit nach 1945, in die Zeit nach dem Holocaust. Das Ringen mit der offenbar völligen Sinnlosigkeit von Auschwitz, das Nachdenken über eine mögliche Antwort auf all die bedrängenden Fragen nach einer (religiösen) jüdischen Identität post Auschwitz und jüdischer Erinnerung an Auschwitz, die Diskussion dieser originär jüdischen Problematik einer Deutung des Holocaust nahm innerhalb des Judentums seinen Ausgang und findet zentralen Niederschlag in den Werken der sogenannten 'Holocaust-Theologen'. In ihren seit Mitte der 60iger Jahre erscheinenden Büchern - und noch viel mehr in der lang anhaltenden Debatte um sie -, werden die Fragen und Probleme um eine jüdische Identität und die angemessene Form der Erinnerung formuliert und diskutiert. Namentlich zu nennen sind hierbei hauptsächlich: Ignaz Maybaum, Richard Lowell Rubenstein, Emil Ludwig Fackenheim und Eliezer Berkovits - die vier Klassiker unter den Holocaust-Deutern - und in ihrer Folge vor allem dann Arthur Allen Cohen, Irving Greenberg und - mit Einschränkungen - Mark Ellis.
 
Es ist hier nicht die Zeit und der Ort, die ungemein beeindruckenden Positionen dieser jüdischen Herkules-Kämpfer des Geistes und der Seele sowie die ungemein intensive Diskussion innerhalb des Judentums um die Positionen dieser Denker ausführlich vorzustellen. Einen von ihnen nur möchte ich zu Wort kommen lassen, weil er innerjüdisch vielleicht der bedeutsamste, wirkungsreichste war – und weil er von allen zeitlebens am tiefsten mit Deutschland verbunden und mit Christen im Dialog stand und nicht zuletzt, aufgrund einer seiner Lehrer, Franz Rosenzweig – gerade mit Kassel eine besondere Beziehung empfand: Emil Ludwig Fackenheim
 
1970 veröffentlichte der in Halle/Saale geborene, damals in Kanada, dann in Jerusalem lebende und vor fast zwei Jahren verstorbene Rabbiner und Philosoph Emil Ludwig Fackenheim, sicher einer der bedeutendsten jüdischen Philosophen der Gegenwart, ein Schüler von Buber und Rosenzweig, sein Buch "God's Presence in History", das zweifelsohne als Klassiker des gegenwärtigen jüdisch-religiösen Denkens bezeichnet werden kann.
 
Am Beginn von Fackenheims Ringen um Gott und die jüdische Existenz steht das Ungenügen an dem traditionellen Deutungsmuster des Kiddusch Haschem, der Heiligung des Namen Gottes. Denn sogar die Möglichkeit des Martyriums sei, so Fackenheim, von den Nazis zunichte gemacht worden. Anders als etwa die Juden zur Zeit der Kreuzfahrer, denen zumindest die Wahl blieb ent-weder mittels der Taufe ihre Rettung zu erwirken, oder aber mit dem  'Shma Yisrael' auf den Lippen würdevoll für ihren Glauben zu sterben, gab es für Juden in Auschwitz keine solche Wahl:
 
"Die Jungen und die Alten, die Gläubigen und die Ungläubigen wurden hingeschlachtet ohne Unterschied. Kann es ein Martyrium geben, wo es keine Wahl gibt? ... Torquemada zerstörte Körper, um Seelen zu retten. Eichmann suchte die Seelen zu zerstören, bevor er die Körper zerstörte. ... Auschwitz war der größte, diabolischste Versuch, der je unternommen wurde, um das Martyrium selbst zu morden und ... allem Tod, das Martyrium eingeschlossen, seiner Würde zu berauben". 
 
Fackenheim betont, gleich den meisten anderen Holocaust-Deutern, dass es aussichtslos, ja gar blasphemisch sei, für Auschwitz eine befriedigende kausale Erklärung, einen Zweck, Sinn, oder Absicht entdecken zu wollen. Das Überleben der Juden als Juden, so Fackenheim, werde nicht davon abhängen, eine Erklärung für den Holocaust zu finden, wohl aber davon, eine Antwort auf die katastrophalen Ereignisse geben zu können.
 
In faszinierenden Gedankengängen entwickelt Fackenheim seine – wenn man so will – geschichts-theologische Interpretation des Holocaust. In entschiedener Betonung der singulären Bedeutung des Holocaust und in Ablehnung der traditionellen Rechtfertigungsmuster (unserer Sünden wegen; jüdisches Martyrium) münden seine Überlegungen in dem radikalen und originären Gedanken, dass nur eine erneute Offenbarung Gottes in der Geschichte die schier unmöglich gewordene Existenz des Juden im Schatten von Auschwitz noch ermöglichen kann. Mitten aus dem Höllenszenario von Auschwitz her, so Fackenheim, ertönt die "gebietende Stimme Gottes" und spricht:
 
"Juden ist es verboten, Hitler einen posthumen Sieg zu verschaffen. Ihnen ist es geboten, als Juden zu überleben, ansonsten das jüdische Volk unterginge. Ihnen ist es geboten, sich der Opfer von Auschwitz zu erinnern, ansonsten ihr Andenken verloren ginge. Ihnen ist es verboten, am Menschen und an der Welt zu verzweifeln und sich zu flüchten in Zynismus oder Jenseitigkeit, ansonsten sie mit dazu beitragen würden, die Welt den Zwängen von Auschwitz auszuliefern. Schließlich ist es ihnen verboten, am Gott Israels zu verzweifeln, ansonsten das Judentum untergehen würde. ... Und ein religiöser Jude, der seinem Gott treu geblieben ist, mag sich gezwungen sehen, in eine neue, möglicherweise revolutionierende Beziehung zu Ihm zu treten. Eine Möglichkeit aber ist gänzlich undenkbar. Ein Jude darf nicht dergestalt auf den Versuch Hitlers, das Judentum zu vernichten, antworten, indem er selbst sich an dieser Zerstörung beteiligen würde. In den alten Zeiten lag die undenkbare jüdische Sünde im Götzendienst. Heute ist es die, auf Hitler zu antworten, indem man sein Werk verrichtet."
 
Diesen unbedingten Aufruf zum jüdischen Überleben und zur Sinnhaftigkeit jüdischer Geschichte, den Fackenheim an anderer Stelle als das "614.Gebot" bezeichnet hat, bindet er in eine geschichtstheologische Konzeption der jüdischen Geschichte ein, innerhalb dessen er dem Holocaust einen ähnlich fundierenden Rang einräumt, wie dem Exodus und der Sinai-Offenbarung. Alle drei Ereignisse - Exodus, Sinai-Offenbarung, und der Holocaust bzw. die gebietende Stimme von Auschwitz mit ihrem 614. Gebot, sind für ihn "Wurzelerfahrungen", die das jüdische Volkes im Lauf seiner Geschichte gemacht hat. Und ähnlich wie Exodus und Sinai-Offenbarung sowohl grundlegende Bedeutung für das jüdische Verständnis von Geschichte und Gedächtnis hatten und demzufolge in Fest, Ritual und Liturgie seit Jahrtausenden erinnernd vergegenwärtigt werden, ebenso werde der Holocaust im jüdischen Gedächtnis erinnernd bewahrt werden müssen.
 
Warum ist es so wichtig, sich zu erinnern? Warum müssen wir uns erinnern? Warum sollten auch die nachkommenden Generationen, zu denen ich selbst ja auch gehöre, sich an etwas erinnern, von dem sie gar keine Erinnerung haben können, weil es sie schlicht noch nicht gab, als all das geschehen ist? Das ist und bleibt eine berechtigte Frage. Und ich möchte Ihnen nicht die Antwort geben, sondern meine.
 
Zum einen bin ich zutiefst der Überzeugung, daß die Welt nach Auschwitz eine andere geworden ist, als zuvor. Auschwitz hat der Welt und dem Leben eine Wunde zugefügt, die nie mehr ganz heilen wird. Und in dieser verwundeten Welt, der Welt im Jahre 60 nach Auschwitz, leben wir und leben unsere Kinder und werden unsere Kindeskinder leben, und deshalb sollten wir und unsere Kinder und unsere Kindeskinder wissen, was es mit dieser Welt und dieser Wunde auf sich hat. Auschwitz hat das Grundvertrauen des Lebens in sich selbst, das Vertrauen auf Gott, vor allem aber auch das Vertrauen in den Menschen selbst aufs tiefste erschüttert. "Auschwitz", so schreibt der kath. Theologe Johann Baptist Metz, "Auschwitz hat die ... Schamgrenze zwischen Mensch und Mensch tief abgesenkt." Seit Auschwitz wissen wir, daß buchstäblich nichts unmöglich ist, aber auch daß es nichts gibt, keine Erziehung, keine Bildung, keine Religion und keine Kultur, und offenbar auch keinen wie auch immer gearteten Glauben an welchen Gott auch immer, der uns davor bewahrt, daß die Bestie im Menschen erwacht und alles frißt, was sich ihr in den Weg stellt.
 
Und wie der radioaktive Fallout, der radioaktiv verseuchte Regen erst sehr viel später nach der Explosion einer Atombombe auf die Erde hernieder fällt und seine verheerende Wirkung entfaltet, so gibt es auch einen Fallout des Holocaust. Nur wenige bringen die gegenwärtigen Krisen mit dieser Katastrophe in Verbindung, etwa das Abschlachten im ehemaligen Jugoslawien oder in Ruanda, aber auch etwa mit dem Verfall der Solidarität in unserer Gesellschaft, der zunehmenden sozialen Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber denen, die auf der Schattenseite von Wohlstand und Erfolg leben müssen, und es werden immer mehr. Die Erinnerung an Auschwitz würde uns dem entgegen daran mahnen, wohin es führen kann, wenn wir Intoleranz, Haß und Gleichgültigkeit die Oberhand gewinnen lassen. "Das Gegenteil von Liebe", sagt Elie Wiesel, "das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit."
 
Auschwitz erinnert uns daran, daß es sich hier nicht allein um einen Ort handelt, der tausende Kilometer entfernt, tief in Polen liegt oder noch entfernter: ein Ort der Geschichte ist. Nein, die Erinnerung an Auschwitz kann uns lehren, daß die ersten Schritte auf dem Weg nach Auschwitz hier, direkt vor uns, bei uns, durch uns ihren Anfang nehmen können: Der Weg nach Auschwitz beginnt da, wo wir wegschauen, wenn anderen Unrecht geschieht, wo wir feige den Mund halten, wenn andere Haß und Gewalt predigen, er beginnt da, wo wir bequem geworden die Augen verschließen, wenn Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Überzeugungen, ihrer Hautfarbe, oder schlicht weil sie uns fremd sind und stören ausgegrenzt, verfolgt, verprügelt, abgewiesen oder allein gelassen werden.
 
Die Erinnerung ist daher nichts für rückwärtsgewandte Menschen, nichts für Weichlinge und nichts für sentimentale Nostalgiker, die in der Vergangenheit schwelgen wollen. Nein, die Erinnerung ist stark, sie ist ein Herkules im Kampf mit den wesentlichen Fragen des Lebens, sie ist gefährlich, sie ist ein Stachel, die Erinnerung ist, wie Elie Wiesel einmal sagte, sie ist nicht nur ein Königreich, sondern auch ein Friedhof. Und der Rückblick auf diesen Friedhof ist gefährlich.
 
Jemand anders hat einmal gesagt, wer im Angesicht von Auschwitz nicht seinen Verstand verliert, der hat keinen zu verlieren. Womit wir wieder bei Barblin wären, die gerade durch ihren Wahnsinn, in den sie verfällt, sich als die einzige in Andorra erweist, die einen Verstand hat, gerade deswegen, weil sie die einzige ist, die ihn in Anbetracht dessen, was geschehen ist, verloren hat. Und auch für diesen Zusammenhang, den Zusammenhang von Erinnerung und Wahnsinn, hält die jüdische Tradition eine beeindruckende Geschichte bereit:
 
Ein Heiliger, so wird erzählt, hörte einst von der bösen Stadt Sodom. Da er ein Heiliger war, ging er in die Stadt voller Liebe und Mitgefühl für ihre Einwohner. Als er um sich herum überall Bosheit sah, begann er täglich zu predigen, zu bitten und zu protestieren. Nachdem er dies viele Jahre tat, fragte ihn ein Freund: "Wozu die ganze Mühe? Du hast sie nicht um ein Haar verändert!". Der Heilige antwortete: "In dieser Stadt des Wahnsinns und der Sünde muß ich immer wieder anfangen zu schreien, zu bitten und zu protestieren - nicht, damit diese werden wie ich, sondern damit ich nicht werde wie sie."
 
Die Erinnerung ist eine Kraft, muß uns zu einer Kraft werden, die uns selbst vor dem Wahnsinn schützt und einen Weg in eine menschlichere Zukunft weist.
 
Und einige dieser Wegmarken, die uns die Erinnerung weist, könnten vielleicht so aussehen:
Dass wir beispielsweise jenen mehr vertrauen, die uns - wie Rabbi Zwi Hirsch Meisels, Elie Wiesel oder Zalman Kleinmann - Geschichten zu erzählen wissen, als jenen, die uns mit trockenen Theorien füttern. Dass wir beispielsweise uns bei aller Sehnsucht nach Antworten, die Fähigkeit bewahren, zu fragen, die Fähigkeit, Antworten immer wieder in Frage zu stellen. Dass wir uns in Acht nehmen vor jenen, die von uns ein "entweder-oder" fordern, und dass wir dem entgegen die reife Gelassenheit derer entdecken, die "sowohl-als auch" sagen. Dass wir denen misstrauen, die uns endgültige Wahrheiten verkaufen wollen, weil endgültige Wahrheiten immer zu endgültigen Lösungen, zu Endlösungen führen und mithin Wahrheiten sind, die nach Blut, Gas und Feuer schmecken. Dass wir uns nicht verführen lassen von Ideologen und Predigern, die Menschen in schwarz und weiß, gut und böse, gläubig und ungläubig, in Fremde und Freunde, in "die da" und "wir hier" einteilen und damit dem Teufel die Arbeit abnehmen. Niemand muss alle Menschen lieben, und auch niemand muss diejenigen, deren Meinung und Glaube er nicht teilt, umarmen, aber keiner möge vergessen, daß auch sie die gleiche Luft atmen wie wir. Haben wir also Achtung vor dem Leben eines jeden Menschen, den aufzuziehen und zu ernähren, zu lieben und zu ertragen so viel Zeit und Kraft und Geduld gefordert hat - und es doch nur den Bruchteil einer Sekunde bedarf, um so ein Leben mit all seinen Schwächen und Vorzügen, seinen Ängsten und Hoffnungen auszulöschen wie eine Ameise, die man achtlos am Wegrand zertritt.
 
Machen wir uns nichts vor und lassen wir uns nichts vormachen. Die Welt ist ungerecht, so sollten wenigstens wir gerecht sein. Die Geschichte ist unbarmherzig, so sollten wenigstens wir Barmherzigkeit üben. Das Leben ist sinnlos, so sollten wenigstens wir ihm einen Sinn geben. Es mag sein, daß es keinen Gott gibt, aber vielleicht besteht unserer einzige Chance darin, an ihn zu glauben, zu ihm zu reden, zu rufen, zu schreien, ja, mit ihm zu streiten. Viele haben im Angesicht von Auschwitz den Glauben an Gott verloren, und wer wollte es ihnen verdenken, und heute gibt es viele, die erst überhaupt gar nicht mehr damit anfangen, an Gott zu glauben. Was aber, vorausgesetzt es gibt ihn denn doch, was aber, wenn Gott im Blick auf Auschwitz aufhörte, an den Menschen zu glauben, aufhörte, an uns zu glauben?
 
Meine Schleichwege rund um die hydra-gleiche Frage "Wie kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben?" nähern sich dem Ende. Welche Wege hat uns der jüdische Herkules namens Erinnerung entlang geführt? Erstaunlich wenig hat er uns unmittelbar vom Glauben im üblichen Sinne erzählt, dafür um so mehr vom Leben, Über-Leben und Handeln, von Entscheidungen, die zu treffen sind und von Kriterien, die dabei anzulegen wären, er hat uns moralisches Verhalten demonstriert und eine Ethik, deren Wegmarken sich aus der Erinnerung speisen. Und dies führt mich zu dem Gedanken, dass die zahlreich nachwachsenden Köpfe jener hydraesken Frage "Wie kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben?", dass die Halsstümpfe dieser Frage nur auszubrennen sind, indem wir die Frage anders formulieren, sie gewissermaßen vom Kopf auf die Beine stellen: Nicht "Wie kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben?", sondern: "Wie muss man nach Auschwitz leben und handeln, damit ein Glaube an Gott noch oder wieder möglich und vertretbar wird?" Oder – wie es der jüdische Gelehrte und orthodoxe Rabbiner Irving Greenberg einmal kurz und paradigmatisch formulierte: "Religion ist nicht, was man glaubt, sondern was man tut."
 
Ich schließe mit einer sehr persönlichen Bemerkung, die gewissermaßen meine Antwort auf die Frage zum Glauben nach Auschwitz darstellt.
 
Als ich 1994 nach fast über fünf Jahren intensiver Arbeit meine Dissertation abschloss, die eine Darstellung und Auseinandersetzung mit jüdischen Deutungen des Holocaust zum Inhalt hatte, schrieb ich in meinem Vorwort folgende Zeilen, die im Kern auch heute noch meine ganz persönliche Antwort auf die Frage, wie man nach Auschwitz noch an Gott glauben könne, darstellt:
 
Niemand, der über Jahre hinweg – und sei es auch ›nur‹ geistig und psychisch – mit den Abgründen menschlichen Denkens und Handelns konfrontiert ist, geht unverändert aus diesem Prozeß hervor. Die lange und intensive Auseinandersetzung mit der hier behandelten Thematik haben mein Denken und mein Leben in ungeahnter Weise beeinflußt. Viele Dinge, die mir vor Jahren noch als fester und unverbrüchlicher Bestandteil meines Glaubens und Denkens, als gesicherte Grundwahrheiten und unumstößlicher Teil meiner Weltanschauung galten, sind im Laufe meiner Arbeit nachhaltig erschüttert worden. Während der zurückliegenden Jahre meiner Arbeit sind mir zwei Kinder geboren worden. Nichts hat mir eine größere Ahnung von dem Verlust und dem Schmerz vermittelt, der jüdischen Männern und Frauen, Kindern und Greisen – und weiß Gott, nicht nur ihnen – zugefügt wurde, als das unverdiente Glück und die tiefe Freude, die unbändige Lebenskraft und das blühende Wachstum meiner Kinder in gesicherten und unbedrohten Verhältnissen beobachten und fördern zu dürfen – etwas, das millionenfach anderen, vor allem aber den über eine Million jüdischen Säuglingen und Kindern, deren Leben auf dem ›Planet Auschwitz‹ ein Ende gesetzt wurde, auf grausamste Weise verwehrt worden ist. Daß in Anbetracht dieses unauslotbaren Verbrechens die Schöpfung in scheinbar ungebrochenem Lebensrhythmus weiter Tag und Nacht hervorbringt, dem Winter immer wieder ein Frühling folgt, und der Mensch offensichtlich unbeeindruckt und ungehindert fortfährt, Furcht und Schrecken über die Erde zu verbreiten, wird mir für immer ein Rätsel bleiben, wird mir für immer als Wunder erscheinen, von dem ich heute nicht mehr sicher zu sagen weiß, ob es der Gleichgültigkeit oder der Gnade Gottes entspringt.

Literatur:
Yaffa Eliach, Träume vom Überleben, Chasssidische Geschichten aus dem 20. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1985
Max Frisch, Andorra, Franfurt/M. 1976
Johann Baptist Metz, Wie rede ich von Gott angesichts der säkularen Welt?, in: Die Gottrede von Juden und Christen unter den Herausforderungen der säkularen Welt, ZdK Dokumentation, hrsg. v. Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Bonn 1996
Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben, Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, 2. Aufl. Gütersloh 1996.
Ders., "Was hält denn unsere Webe zusammen?", Jüdischer Glaube zwischen Erlösung und Vernichtung, in: Bernd Jaspert (Hg.): Christliche und jüdische Identität nach Auschwitz, Hofgeismarer Protokolle 312, Hofgeismar 1996.

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