24. November 2002
Ansprache am Christkönigssonntag
zur Einweihung des neu renovierten Gemeindezentrums „Alfred Delp Haus“
Mt 25,31-46
Liebe Schwestern und Brüder!
Liebe Gemeinde!
Wir segnen heute unser neu renoviertes Gemeindehaus, damit vor allem aber das darin erhoffte Leben, die Begegnungen, die es ermöglichen soll, das Suchen und Fragen und vielleicht auch Finden des Glaubens, das sich hier ereignen soll. Mit der Segnung erneuern wir auch die Namensgebung: Alfred Delp-Haus. Das ist ein mutiger Schritt, denn Delps Lebensweg bedeutet eine große Herausforderung, seine radikale Entscheidung, für seinen Glauben den Tod auf sich zu nehmen, stellt eine ebenso radikale Anfrage an uns dar.
War dieser besondere Lebensweg Delps eigentlich zu Beginn absehbar? Gab es in seiner Jugendzeit Erlebnisse und Erfahrungen, die ihn dergestalt prägten, daß er schließlich zu einem der bedeutendsten katholischen Theologen des Widerstands wurde? Warum entschloß er sich, Jesuit zu werden, auch schon so früh, mit 19 Jahren? Wer oder was hat ihn so empfänglich gemacht für die soziale Frage? Und wodurch und warum wurde er zu einem der profiliertesten Denker des Politischen Katholizismus des vergangenen Jahrhunderts?
Auf alle diese und auch andere Fragen ließen sich einleuchtende Antworten finden im Sinne von Ursachen und deren Wirkungen. Aber der Mensch ist nach christlichem Verständnis mehr als nur das Ergebnis von Ursachen, geschichtlichen Bedingtheiten oder die Summe seiner Leistungen – im Sakrament der Taufe kommt die Zusage Gottes zum Ausdruck, daß er mit einem jedem von uns seine unverwechselbare und einmalige Geschichte hat, seinen ganz persönlichen, unverwechselbaren Weg geht; dieser Weg bleibt letztlich unerklärbar, weil die Geschichte Gottes mit einem jeden Menschen letztlich ein Geheimnis darstellt.
Und doch dürfen wir heute jenseits aller Erklärungsversuche fragen, welches Vermächtnis Alfred Delp für uns hier in St. Familia hinterläßt, welche Mahnung, vielleicht auch welcher Auftrag uns aus Delps Leben aufgegeben ist.
Zweierlei scheint mir wichtig zu sein, und beides zeigt Delp immer als Glaubenden und zugleich auch als Theologen:
Delp, der zunächst evangelisch getauft und auch konsequent in dieser Tradition erzogen wurde, machte sich schon früh diesen Wahlspruch zu eigen: „Der Mensch ist freien Geistes, freien Gewissens, freien Glaubens.“ Dieses Verständnis von Menschsein und Christsein wird er bis zu seinem Tod zu leben versuchen, immer wieder scheint dieser Wahlspruch in entscheidenden Situationen durch und fordert eine ganz konkrete Konsequenz! Nach einem Streit etwa mit seinem evangelischen Pastor unmittelbar vor seiner Konfirmation konvertiert er mit 17 Jahren zum Katholizismus. Was u.a. daraus folgt: Delp wird Zeit seines Lebens ökumenisch denken, für eine tolerante und weltoffene Kirche eintreten, die vor allem in der sozialen und politischen Frage einen klaren Standpunkte vertritt: Beeinflußt durch sein Soziologie-Studium gewinnt Delp einen scharfen theologischen Blick auf soziale und politische Unrechtssituationen; für ihn gibt es weder eine Trennung zwischen Evangelium und gesellschaftlicher Wirklichkeit, noch zwischen der Verkündigung der Botschaft vom Reich Gottes und dem Engagement in politisch-sozialer Hinsicht. Diese Überzeugung führt ihn u.a. zur Mitarbeit in der KAB sowie in der Männerseelsorge, deren Bundesstelle sich in Fulda befand. Daß Glaube und Leben, geglaubter Glaube und gläubige Praxis untrennbar sind, für diese Überzeugung zahlt Alfred Delp mit seinem Leben! Ökumene aber bedeutet für ihn weit mehr als nur der dringend nötige Dialog zwischen den beiden Kirchen; Ökumene heißt für ihn das Miteinander und Ineinander von Glaube und Welt, heißt zu glauben inmitten der Welt, die so oft entstellt ist von Haß, Gewalt und Gemeinheit. Ökumene bedeutet aber auch, daß der Glaube von der Welt, vom Leben lernen kann, am Leben erwachsen und reif werden kann; und daß der Glaube für die Welt eine Verunsicherung darstellen kann, etwas Unbequemes, ein kritisches Korrektiv.
Mit 19 Jahren tritt Alfred Delp in die Gesellschaft Jesu ein, er wird Jesuit. Nie hat Delp offen erklärt, was ihn zu diesem Schritt bewogen hat, mit dem seine Eltern ganz und gar nicht einverstanden waren. Vielleicht zeigt sich auch darin wieder etwas von seiner evangelischen Herkunft, denn bei den Jesuiten kann er sich seinen „eigenen Kopf“ bewahren: Die Jesuiten, seit jeher einer rationalen Theologie verpflichtet, die auf die Macht des Wortes vertraut, auf Bildung setzt und auf den Dialog mit anderen Wissenschaften, bieten Delp die Möglichkeit, sich intellektuell mit der geistigen Situation seiner Zeit auseinanderzusetzen: Und die färbt sich zunehmend braun. Wie bei den Jesuiten üblich, absolviert er vor dem Theologiestudium ein intensives Philosophiestudium, das er mit Auszeichnung beendet. Sein Bemühen, 1939 mit der Promotion in München zu beginnen, wird von den Nazis zurückgewiesen: Weil er Jesuit ist, so die Begründung, wird ihm ein Promotionsverbot erteilt. Dafür wird er im gleichen Jahr einer der Schriftleiter der auch heute noch wichtigsten deutschsprachigen theologischen Zeitschrift der Jesuiten, der „Stimmen der Zeit“. Er betreut das Fachgebiet Soziologie. Als solch ausgewiesener Fachmann: Vollstudium der Philosophie, der Theologie und Soziologie, arbeitet er ab 1942 im Auftrag seines Provinzials unter strengster Geheimhaltung gemeinsam mit dem sog. „Kreisauer Kreis“, der von Graf Moltke gegründet wurde, an Leitideen einer politisch-sozialen Grundordnung für ein neues Deutschland nach dem erhofften Zusammenbruch des NS-Regimes. Bis zu seiner Verhaftung 1944 widmet sich Delp intensiv diesem Projekt. Das ist exemplarisch für ihn: Trotz der erdrückenden Wirklichkeit von Unrecht, Gewalt und Menschenverachtung den Glauben zu bewahren an das Gute, an den guten Gott, der Frieden und soziale Gerechtigkeit will, eine gerechte politische Ordnung, die Entfaltung des Menschlichen. Daran hat Delp geglaubt, dafür hat er gelebt und gearbeitet: Dass der christliche Glaube auch radikale Diesseitsbezogenheit besitzt, eine „gute Nachricht darstellt für unser Leben hier und jetzt; und daß diese gute Nachricht konkret gesellschaftlich, sozial, politisch ist! Die Inkarnation Gottes in diese Welt, seine Menschwerdung also, so Delp, geschieht auch sozialpolitisch! Delp ist in diesem Glauben unbeirrbar, niemals aber dogmatisch oder rechthaberisch gewesen; er steht mit diesem Glauben ganz auf dem Boden unseres heutigen Evangeliums!
Die ist der eine Aspekt.
Der andere Aspekt kommt in einem Artikel zum Ausdruck, den Alfred Delp während seiner Haft wenige Wochen vor seiner Hinrichtung verfasst hat. In ihm zeigt sich Delp nicht so sehr als politischer Theologe, sondern als Seelsorger einer Kirche, die den Menschen vieles schuldig bleibt. Der Beitrag trägt den Titel: „Das Schicksal der Kirchen“, wobei ich anregen möchte, für das Wort „Kirche“ das Wort „Gemeinde“, besser noch: St. Familia zu hören. Delp schreibt:
„Das Schicksal der Kirchen wird in der kommenden Zeit nicht von dem abhängen, was ihre Prälaten und führenden Instanzen an Klugheit, Gescheitheit, politischen Fähigkeiten etc. aufbringen. [...] Das alles ist überholt. [...]
Von zwei Sachverhalten wird es abhängen, ob die Kirche noch einmal einen Weg zu den Menschen finden wird... Wenn die Kirchen der Menschheit noch einmal das Bild einer zankenden Christenheit zumuten, sind sie abgeschrieben. Wir sollen uns damit abfinden, die Spaltung als geschichtliches Schicksal zu tragen und zugleich als Kreuz. Von den heute Lebenden würde sie keiner noch einmal vollziehen. Und zugleich soll sie unsere dauernde Schmach und Schande sein, da wir nicht imstande waren, das Erbe Christi, seine Liebe, unzerrissen zu hüten. [...]
Der andere Sachverhalt meint die Rückkehr der Kirchen in die Diakonie: in den Dienst der Menschheit. Und zwar in einen Dienst, den die Not der Menschheit bestimmt, nicht unser Geschmack. [...] Mit Diakonie meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen. [...] Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben. [...] Die Kirche muß sich selbst viel mehr als Sakrament, als Weg und Mittel begreifen, nicht als Ziel und Ende.“
Angesichts des heutigen Sonntagsevangeliums kann man sicher sagen, daß Alfred Delps Leben eine einzige Auslegung dieser Botschaft Jesu war!
Am Morgen des 28. Juli 1944, 8 Tage nach dem Attentat Stauffenbergs auf Hitler, feiert Delp wie üblich in St. Georg bei München, wohin ihn die Nazis nach der Schließung der Verlagsräume der „Stimmen der Zeit“ zwangsversetzt hatten, die heilige Messe. Als er anschließend aus der Kirche tritt, kommen zwei Herren auf ihn zu und bitten ihn um ein Gespräch. Delp geht mit ihnen ins Pfarrhaus. Nach kurzer Zeit wird bekannt, daß er verhaftet worden ist. Freisler selbst leitet die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof in Berlin: Anklage wegen Hochverrats, Antrag auf Todesstrafe. Sie wird am 11. Januar 1945 „im Namen des deutschen Volkes“ ausgesprochen und – Delp ist gerade 38 Jahre alt – am frühen Morgen des 2. Februar in Plötzensee vollstreckt – Tod durch Erhängen.
Hitler persönlich hatte angeordnet, daß Alfred Delps Asche auf den Rieselfeldern Berlins verstreut werden sollte.
In zwei kurzen Gedanken soll Alfred Delp noch selbst zu Wort kommen.
Am Ende seiner letzten 4-wöchigen ignatianischen Exerzitien schreibt Delp in sein Exerzitientagebuch:
„Die Grundhaltungen meines künftigen Lebens:
- Gott ernst nehmen: seine lebendige Wirklichkeit; seine Gnade; seine Berufung; seine Menschen
- ein großes Herz haben
- echt sein vor Gott.
Und in seinem letzten Brief, den er kurz vor der Hinrichtung schreibt, heißt es:
„Auf jeden Fall muß ich mich jetzt innerlich gehörig loslassen und mich hergeben. Es ist die Zeit der Aussaat, nicht der Ernte. Gott sät; einmal wird er auch wieder ernten. Um das eine will ich mich mühen: wenigstens als fruchtbares und gesundes Saatkorn in die Erde zu fallen, Und in des Herrgotts Hand. Und mich gegen den Schmerz und die Wehmut wehren, die mich manchmal anfallen wollen. Wenn der Herrgott diesen Weg will – und alles Sichtbare deutet darauf hin – dann muß ich ihn freiwillig und ohne Erbitterung gehen. Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind. [...] Es bleibt mir noch, vielen Menschen für ihre Treue und Güte und Liebe zu danken. Dem Orden und den Mitbrüdern, die mir einen schönen und echten geistigen Lebensraum schenkten. Und den vielen echten Menschen, denen ich begegnen durfte... Ach Freunde, ... behaltet dieses Volk lieb, das in seiner Seele so verlassen und so verraten und so hilflos geworden ist. Und im Grunde so einsam und ratlos, trotz all der marschierenden und deklamierenden Sicherheit. Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte, eine wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war, hat sein Leben einen Sinn gehabt.“
Otmar Leibold,
Schulseelsorger, Engelsburg-Gymnasium, Kassel