Jeglicher Diskriminierung entgegentreten!
Gedenkfeier 7. November 2008 auf dem jüdischen Friedhof Kassel
 
 
Vor 70 Jahren verwüsteten die Nationalsozialisten in Deutschland die Gotteshäuser der Juden, schändeten die Heiligen Schriften, raubten die Kunstschätze und setzten die Synagogen in Brand. Damit überschritten die Nationalsozialisten die Grenze zur offenen und massenhaften Gewalt, die in den Völkermord führte und etwa 6 Millionen Juden das Leben kostete.
 
Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland lange gedauert, bis sich der Staat, die Kirchen und die einzelnen Menschen ihrer Verantwortung gegenüber dem Geschehen bewusst wurden und der Opfer der Shoa öffentlich gedachten.
 
Seit Jahrzehnten finden nun zum 9. November vielerorts Gedenkveranstaltungen statt. Weitere Gedenktage und -orte sind hinzugekommen.
 
Aber: Kein nationaler Gedenktag für die Opfer der Shoa, kein Denkmal für die vernichteten Juden Europas in der Hauptstadt Berlin und keine der zahlreichen Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht können gewährleisten, dass die Erinnerung an die Opfer der Shoa und an die Täter im kulturellen Gedächtnis unseres Volkes verankert bleibt.
 
Wir beobachten bei Älteren ebenso wie bei Jüngeren durchaus auch den Wunsch nach einem Schlussstrich unter die Geschichte von Auschwitz. Mit zeitlichem Abstand und schwindendem persönlich - biografischen Bezug wachsen die Fragen: Warum erinnern? Warum sich der Verantwortung für eine Schuld stellen, die nicht die eigene ist?
 
Verdrängen und Abwehr aber sind gefährlich, denn: „Der Schoß ist fruchtbar noch.“ Antisemitismus und Rassismus sind in unserer Gesellschaft nicht nur latent vorhanden, sondern werden manifest: in der Propaganda rechtsextremer Gruppierungen, in ihrem offenen Uminterpretieren und Verharmlosen der Geschichte und in ihren aggressiven Parolen gegen Migranten. 
 
Mir selber hilft die reale Erinnerung an Erfahrungen, die Menschen gemacht haben. „Die Wahrheit ist konkret!“ Wozu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Haß führen - Menschen haben immer wieder versucht, das unaussprechliche auszusprechen, ihre Erfahrungen mitzuteilen.
 
Ich lese aus Elie Wiesel, Die Nacht. In Auschwitz war ein Sabotageakt untersucht worden. Drei angeblich Verantwortliche sollten Gehängt werden. Darunter war ein Junge. Elie Wiesel beschreibt sein Erlebnis folgendermaßen:
 
„Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.
 
Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle.
 
Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlinge geführt.
 
,Es lebe die Freiheit!‘ riefen die beiden Erwachsenen.
 
Das Kind schwieg.
 
,Wo ist Gott, wo ist er?‘ fragte jemand hinter mir.
 
Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter.
 
,Mützen ab!‘ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten.
 
,Mützen auf!‘
 
Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch ...
 
Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebt noch, als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen.
 
Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen:
 
,Wo ist Gott?‘
 
Und ich hörte einen Stimme in mir antworten:
 
,Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen ...‘
 
An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam.
 
So schrecklich und unfaßbar uns diese Ereignisse erscheinen: Sie sind real. Sie waren möglich. Sie haben ihren Ausgangspunkt in der deutschen Gesellschaft gefunden.
 
Es war in einer zivilisierten Gesellschaft wie der deutschen möglich, dass der Staat die Vernichtung eigener Bürger betrieb. Die Verbrechen wurden aktiv von Industrie und Bürokratie unterstützt. Die Mehrheit der Gesellschaft sah teilnahmslos zu, machte mit oder profitierte. Nur wenige Menschen fanden den Mut dieser Politik zu widerstehen und den Verfolgten zu helfen.
 
Der Jahrestag der Pogromnacht mahnt Staat, Kirche und Gesellschaft heute entschieden gegen alle Formen von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus einzutreten. 
 
Ich freue mich sehr, dass wir in Kassel ein deutliches Zeichen der Freundschaft mit der wiedererstarkten Jüdischen Gemeinde setzen können. Am kommenden Sonntag wird die renovierte Thorarolle von Rabbiner Freyshist in Gebrauch genommen. Sie konnte - auf Initiative der Kirchen - durch zahlreiche Spenden Kasseler Bürger renoviert  werden. Wenn sie zukünftig wieder in der Kasseler Synagoge ihren Platz hat wird sie ein Zeichen dafür sein, dass die Menschen in Kassel sich darüber freuen, dass jüdischen Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche mit uns leben.
 
Harald Fischer